Manchmal zeigen sich die großen geschichtlichen Trends in kleinen Ländern am deutlichsten. Mit dem so genannten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Lateinamerika ist es so. Die schillernde Formel nehmen zwar nur – und das eher selten – Hugo Chávez und Rafael Correa in den Mund, die Präsidenten Venezuelas und Ecuadors, und sie bleiben dabei bewusst vage.
Der Bolivianer Evo Morales vom Volk der Aymara, der vor vier Jahren sensationell im ersten Wahlgang gewann, wird von den großen Vereinfachern in den bürgerlichen Medien gerne wahlweise dem „radikalen“ oder „populistischen“ Lager zugeschlagen und bisweilen als Chávez-Marionette diffamiert. Uruguays Linksregierung unter dem Arzt Tabaré Vázquez hingegen gilt wegen ihrer „soliden“, investorenfreundlichen Wirtschaftspolitik als „vernünftig“, die vormalige „Schweiz Lateinamerikas“ als Teil des westlichen Lagers.
Jenseits ihres realen Kerns verschleiern diese Schubladen mehr als sie erklären. Denn die rosarote Welle, die Lateinamerika im letzten Jahrzehnt erfasst hat, erfährt überall eine landesspezifische Ausprägung. Dabei sind die Präsidenten mitsamt ihren Machtzirkeln viel pragmatischer als es ihre Rhetorik manchmal vermuten lässt. Das gilt gerade für jene, deren wirtschaftspolitische Spielräume wegen der Größe ihres Landes besonders gering sind, zum Beispiel für Evo Morales.
Wie für seinen brasilianischen Kollegen Luiz Inácio Lula da Silva, den er gerne als „älteren Bruder“ bezeichnet, ist für den 50-Jährigen eigentlich immer Wahlkampf. Sein typischer Tagesablauf sieht so aus: Ab fünf Uhr früh Arbeitstreffen im Präsidentenpalast, tagsüber zwei Ortstermine in der Provinz, etwa die Übergabe von Traktoren oder eine Einweihung, abends ein öffentlicher Termin in La Paz. Die Regierungsgeschäfte erledigt derweil ein kleiner Kreis von Vertrauten, allen voran Vizepräsident Álvaro García Linera.
An einem Abend um acht empfängt Morales an die 300 RentnerInnen zur Feierstunde des neu eingerichtete „Tages des älteren Erwachsenen“, ein Querschnitt durch alle sozialen Schichten. Nach der Nationalhymne und der Rede von Justizministerin Celima Torrico geht der Präsident ans Rednerpult. Auf einmal scheint seine Müdigkeit wie weggeblasen. „Es ist die Pflicht der Regierung, Ihnen, den Älteren, die ihr Leben für Bolivien gegeben haben, die so viel gearbeitet haben, diese Ehrung zu erweisen“, sagt Morales. Zuvor hatte die Quechua-Indianerin Torrico das Dekret vorgelesen, das allen über 60 einen 40-prozentigen Rabatt auf Flugreisen gewährt.
Mit dem früheren Lamahirten und Kokabauern aus dem indigen geprägten Andenhochland identifizieren sich Millionen BolivianerInnen. „Er ist einer von uns“, hört man immer wieder, auch im Plan Tres Mil, dem größten Armenviertel der Tieflandmetropole Santa Cruz. An den dortigen Verkaufsständen werden neben Lebensmitteln raubkopierte DVDs und CDs feilgeboten, Artikel für Haushalt und Hygiene, Schreibwaren, Kleider, Schuhe.
„Das Geschäft läuft schlecht“, klagt Remigia Miguel, eine kräftige 45-Jährige mit einem langen schwarzen Zopf, „es gibt immer mehr Schuhverkäufer.“ Zur Zeit verdient die neunfache Mutter weniger als ihr Mann, der in einer Schneiderwerkstatt angestellt ist. „Dort ist es auch schwierig, weil so viele Altkleider aus den USA importiert werden“, berichtet sie.
Als junges Mädchen ist sie mit ihrer Familie aus dem Hochland nach Santa Cruz gekommen – auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Vier ihrer Geschwister sind nach Spanien ausgewandert. In Santa Cruz nennen viele Alteingesessene die dunkelhäutigen Zuwanderer verächtlich „Collas“, nach einem Indianervolk aus den Anden. In den letzten Jahren, parallel zu Morales‘ Aufstieg, zeigt sich der Rassismus der „Cambas“, der „echten“ Cruceños, immer unverhüllter. Auch Remigia Miguel bekommt ihn zu spüren, wenn sie in der kolonialen Altstadt Schuhe verkauft.
Den Präsidenten unterstützt sie voll. „Jetzt gibt es Zuschüsse für Schulkinder und Schwangere, und für die Alten eine höhere Rente“, nennt sie die drei wichtigsten Sozialprogramme, die die Regierung aufgelegt hat. Möglich wurde dies, weil sie im Rahmen ihrer Nationalisierungspolitik den Staatsanteil am Erdgasexport drastisch erhöhte: Vor vier Jahren blieben dem Staat 27 Prozent der Reingewinne, heute sind es, je nach Förderanlage, 65 bis 77 Prozent.
Die Linkswende ist im Land umstritten, die Reichen und viele Angehörige der urbanen Mittelschicht fürchten um ihre Privilegien. Besonders heftig wehrt sich die hellhäutige Oligarchie von Santa Cruz gegen die Politik der Zentralregierung. Angeführt von wohlhabenden Großgrundbesitzern, strebten die Cruceños eine weitreichende Autonomie an. Viele reden offen rassistisch über den Indígena-Präsidenten.
Im September 2008 wäre das Kräftemessen mit der Zentralregierung in La Paz beinahe in einen Bürgerkrieg gemündet. Doch unter Führung Brasiliens und der kurz zuvor gegründeten Unasur (Union südamerikanischer Nationen) stellten sich sämtliche Präsidenten Lateinamerikas – nur Chile hat, kurze Zeit noch, eine Präsidentin – hinter Morales; in Bolivien selbst konnte er die sozialen Bewegungen hinter sich scharen und die Opposition in die Knie zwingen. Die Rechte hat sich von dieser Niederlage noch nicht erholt, gespalten zog sie in den Wahlkampf.
Selbst wenn Morales‘ Rückhalt in der urbanen Mittelschicht bröckelt – auch in La Paz -, die guten Wirtschaftsdaten dürften ebenfalls zu seinem Wahlsieg am 6. Dezember beitragen. Mit 3,2% wies Bolivien im ersten Halbjahr 2009, dem Krisensemester schlechthin, das höchste Wirtschaftswachstum in ganz Amerika auf, auch wegen der deutlichen Steigerung öffentlicher Ausgaben, die im Gegensatz zu den klassischen Rezepten des Internationalen Währungsfonds (IWF) steht.
Auf Platz zwei folgt Uruguay mit 1,5 Prozent. Zuvor hatte das Wachstum unter der Regierung des schon 1971 gegründeten Linksbündnisses „Frente Amplio“ im Schnitt 8% jährlich betragen, die Arbeitslosigkeit wurde mehr als halbiert. Der Reallohn stieg um fast ein Drittel, der Mindestlohn verdoppelte sich. 2004 lebten 32% der Bevölkerung in Armut, jetzt ist es „nur“ noch ein Fünftel. Diese Erfolgsbilanz, die bei einer konservativen Wirtschaftspolitik ähnlich wie in Brasilien vor allem den hohen Preisen für die Exportprodukte geschuldet ist, wiederholte der Linkskandidat José „Pepe“ Mujica im Wahlkampf immer wieder.
Als sich der schnurrbärtige 75-Jährige mit Baskenmütze, blauem Anorak und Jeans den Weg in eine schmucklose Halle im Osten Montevideos bahnt, bricht Jubel aus. Zuerst lobt er den populären Präsidenten Tabaré Vázquez, dem die Verfassung keine direkte Wiederwahl gestattet, als „brillianten Arzt“. Für seinen Kontrahenten, den rechtsliberalen Luis Alberto Lacalle, sei das Leben ein Wettbewerb, in dem die Sieger belohnt und die Verlierer bestraft werden. „Das Fühlen-Können, das ist der entscheidende Unterschied zwischen links und rechts.“ Im ersten Wahlgang Ende Oktober kam Mujica auf 48, Lacalle auf 29 Prozent.
In den frühen 1960er Jahren gehörte er, der damals seinen Lebensunterhalt als Blumenzüchter außerhalb von Montevideo verdiente, zum Gründungszirkel der Tupamaro-Stadtguerilla. Einmal wurde er angeschossen und viermal verhaftet, zweimal gelang ihm die Flucht aus dem Hochsicherheitsgefängnis Punta Carretas. Getötet habe er nie, sagt er.
Fast 15 Jahre verbrachte Mujica in Haft, während des Militärregimes von 1973 bis 1985 als eine der „Geiseln“ des Regimes, denen bei Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs durch ihre Genossen die Hinrichtung drohte. Reue zeigt er nicht, im Gegenteil: „Am meisten bereue ich, dass wir es nicht geschafft haben, die Diktatur mit Fußtritten zu beenden.“
Seinem langjährigen Genossen Julio Marenales ist die Wandlung des José Mujica nicht ganz geheuer. „Für mich ist er ein Fragezeichen“, sagt der temperamentvolle, weißhaarige Mann vor einem Che-Guevara-Poster im Hauptquartier der Bewegung für Volksbeteiligung (MPP), der mittlerweile größten Gruppe der Breiten Front.
„Es ist schwer zu wissen, was Pepe wirklich denkt“, sagt Marenales, „wir haben in letzter Zeit wenig miteinander geredet.“ Als größte Erfolge der seit März 2005 amtierenden Linksregierung bezeichnet der alte Aktivist neben neuen Jobs und dem Rückgang der Armut die Sorge um Verbesserungen im Bildungs- und Gesundheitswesen, doch er beklagt die wachsende Kluft zwischen Reichen und Armen. Unter Tabaré Vázquez, Wirtschaftsminister Danilo Astori und Mujica habe sich die Breite Front von dem Ziel entfernt, Uruguay „gemeinsam mit dem Volk“ zu verändern.
Könnte ein Präsident Mujica diesen Trend umdrehen? Hat der alte Fuchs im Wahlkampf nur Kreide gefressen und plant insgeheim eine radikalere Linkswende? Marenales zuckt mit den Schultern. „Es könnte ein interessantes Experiment werden, aber eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Pepe wird zusammen mit Leuten regieren, die ganz anders denken als er.“ Als Vizepräsidenten hat sich Mujica den rechten Sozialdemokraten Astori ausgesucht, den er in der internen Vorwahl klar besiegt hatte.
Wiederholt hat er sich gegen „autoritäre“, staatslastige Sozialismusmodelle à la Kuba und Venezuela gewandt. Er bezeichnet sich selbst als libertären Sozialisten und meint pragmatisch: „Wir glauben, dass der Kapitalismus so gut wie möglich funktionieren sollte, und versuchen dabei sozialistische Räume zu schaffen und auszuweiten, etwa selbstverwaltete Betriebe.“ In Debatten zeigt sich der Autodidakt als wortgewandter Intellektueller, doch oft poltert er auch in volksnaher Umgangssprache los, die vielen einfachen UruguayerInnen ganz natürlich signalisiert: „Der ist einer von uns.“ Mujicas Sieg bei der Stichwahl am 29. November ist sehr wahrscheinlich.
Evo Morales und José Mujica sind volksnahe Linke, die gerne Konventionen durchbrechen: Krawatten sind ihnen ein Gräuel. Beide haben sich als gewiefte, erfahrene Machtpolitiker gezeigt, die auch strategische Allianzen mit dem Kapital eingehen. Die Integration Lateinamerikas ist ihnen ein Herzensanliegen.
Beide sind Männer mit festen Überzeugungen, aber keine Ideologen. Mit Ökosozialismus oder Basisdemokratie haben sie wenig am Hut: Morales will im Amazonasgebiet Öl fördern, Mujica wird weiterhin auf Eukalyptusplantagen und Agrobusiness setzen. Paternalistische Sozialprogramme haben mehr Gewicht als echte Partizipation.